Gesangsausbildung

1 Die Gesangsausbildung

Die jungen Kanarienhähne müssen zur Gesangsschule

Was mag sich wohl hinter dem Begriff “Gesangsausbildung” verbergen? Bei einer Sopranistin oder einem Tenor gibt es hierüber keinen Zweifel, doch wie kann man wohl einen jungen Kanarienhahn “anlernen”, wie dies von den Imster und später von den Harzer Bergleuten überliefert ist und bis in die heutigen Tage von den Gesangskanarienzüchtern praktiziert wird? Was wurde den Jünglingen in der Kanarienschule eigentlich so alles beigebracht, und wie verläuft die Gesangsausbildung heute? Aus der Frühzeit der Gesangskultur in Imst liegen leider keine Berichte vor, doch hat Metzdorf 1886 ausführlich über die Gesangsausbildung der jungen Kanarienhähne in St. Andreasberg berichtet. Hier ein kurzer Auszug:

“Bald nach der Mauser, die er leicht übersteht, da er nur die Flaumfedern, nicht die Kielfedern wechselt, regt sich der Gesangsdrang mächtiger in ihm. Wenn dann die Vorsänger ihr Morgen-, Mittag- und Abendlied, das sind die Tageszeiten, an denen der Vogel besonders zusammenhängend singt, vortragen, sieht man in einem edlen Stamm das Gebalge der Jugend aufhören. Die Kleinen sitzen dann ruhig, Mann neben Mann auf den Stengeln und üben, ihre Kehlchen mächtig aufblasend, jeder nur mit sich selbst und seinem Studium beschäftigt. Für jeden Tierfreund ein reizender Anblick. Zuerst allerdings ist die Stimme noch unbeholfen, es ist ein Geknuckse und Geknackse, allmählich nurk nark aber klärt sich das Tongeschwirr und lassen sich die einzelnen Touren wohl heraushören. Sie werden dreister und versuchen, ihr Repertoire zu vergrößern. Je ruhiger die Vögel beim Sitzen bleiben, je fleißiger sie üben, je vielversprechender ist die Nachzucht.

Da aber die Beanlagung der einzelnen Individuen eine recht verschiedene ist, so müssen der Ansteckungsgefahr wegen schon jetzt die schlechten Subjekte entfernt werden. Es kommt nun die Zeit, wo die Jugend anfängt, lauter zu werden, wo der Überschuß der Kräfte die Gefahr eines heftigen Gesanges birgt, der Harzer Vogel soll aber leise und ruhig singen. Die jungen Studenten kommen daher in Klausur, d.h. in kleine Bauerchen, in Einzelhaft. Zuerst behagt das enge Behältnis der an den freien Flug im großen Bauer gewöhnten Jugend sehr wenig – aber ihre schmiegsame Natur gewöhnt sich rasch an die neuen Verhältnisse, und bald beginnt sich ein erneuter Lerneifer zu zeigen. Es ist erstaunlicher Fleiß in diesen jungen Tieren, und es hat etwas Rührendes, wie sie immer wieder ansetzen, um eine schwierige Tour herauszubekommen, bis es endlich gelingt, und mit Stolz sie dieselbe dann wiederholen.

In den kleinen Bauern werden die Vögel allmählich an eine gewisse Verdunkelung gewöhnt, am besten in sogenannte Gesangskästen oder Dunkelkästen gestellt. Die Vögel müssen einander hören, aber keiner darf den andern sehen können. Dadurch wird erreicht, daß der Schüler seine ganze Aufmerksamkeit auf den Gesang konzentriert, weder kann er in dem kleinen Behältnis ausgiebig turnen, noch seine Zeit mit der Beobachtung seiner Umgebung vertrödeln, und das milde Dämmerlicht gibt ihm Ruhe. Diese Verdunkelung ist seit circa 50 Jahren von den Andreasbergern als ein mächtiges und durchaus unentbehrliches Hilfsmittel für die Erziehung und Erhaltung eines ruhigen und zusammenhängenden Gesanges erkannt und benutzt worden. Ohne diese Hilfsmittel würden wir die heutigen Leistungen der Gesangsvögel nicht besitzen. Die Sonne ist der Feind des Gesanges, lautet ein durchaus richtiges Wort der Kanarienveredelung, und auch die
2 Nachtigall singt ihre klagenden Rollen und füllenden Flöten ruhiger, gebundener und getragener in dem Düster der Nacht oder dem milden Dämmerlicht des Mondenscheins, während ihr Gesang am Tage unruhiger, kürzer und mehr abgebrochener sich zeigt”.

Diese Worte gelten auch heute noch unverändert, jedoch mit einer Ausnahme, dass gegenwärtig Vorsänger nicht mehr eingesetzt werden.

In einer Zeit, in der viel weniger Sinneseindrücke als heute auf die Menschen einströmten, waren die aus Spanien importierten Kanarienvögel beliebte Hausgenossen, anfangs wohl gar nicht einmal wegen ihres Gesanges, sondern wegen ihrer Anmut und ihres munter-vertrauten Wesens. Sie brauchten nur eine einfache Behausung und konnten in jeder noch so bescheidenen Stube eine Bleibe finden. So eroberten sie bald die Herzen der kleinen Leute, die durch die Hinwendung zu ihren gefiederten Sängern den grauen Alltag und die Sorge um das tägliche Brot für eine Weile vergessen konnten.

Man erkannte bald, wie gelehrig Kanarien und gefangene Waldvögel sind, und versuchte, die Tierchen weiter auszubilden. Mancher Pfleger verbrachte viel Zeit mit seinem Vogel, stellte allerlei Spielchen mit ihm an und brachte ihm bisweilen kleine Kunststücke bei. Einige Finken konnten Holzwägelchen mit Wasser oder Sämereien auf einer schrägen Rampe außerhalb des Käfigs zu sich heranziehen. Dabei mussten sie mit dem Schnabel an dem Faden, der das Wägelchen hielt, ziehen und ihn zum Nachgreifen immer wieder mit dem Fuß festhalten, damit der Wagen nicht zwischenzeitlich wieder herunterrollte. Kanarien durften im Zimmer umherfliegen und lernten schnell, auf dem Kopf ihres Pflegers oder auf seiner Schulter zu landen, Liebkosungen auszutauschen oder auf einem Finger sitzend Naschereien zu erbetteln. Manchen Finken und besonders Kanarien gab man Nachtigallen oder andere Vorsänger, damit sie deren Lied erlernten, oder spielte ihnen mit Instrumenten, wie z.B. dem Flageolet, kleine Musikstücke und Volkslieder zum Anlernen vor.

Im Vergleich mit anderen Stubenvögeln ist das Besondere, Einmalige am Kanarienvogel ohne Zweifel sein intensiv durch den Menschen geformter Gesang. Kanarien gibt es in vielen Farbschlägen und Gestaltsausprägungen, doch sind sie hierin nicht einmalig, so etwas findet sich auch bei anderen Stubenvögeln oder beim Geflügel wie Hühnern und Tauben. Früh haben die Züchter erkannt, daß das Kanarienlied und seine Strophen nicht nur wunderschön, sondern auch züchterisch formbar sind, weil sie auf erblicher Grundlage beruhen. Da mit guten Sängern hohe Preise erzielbar waren, begannen schon im 18. Jahrhundert die Züchter im Tiroler Bergstädtchen Imst, den Gesang ihrer jungen Hähne nach besonderen Methoden, die sich im Verlauf langer Jahre als erfolgreich herausgestellt hatten, zu kultivieren. Der Umfang und der kommerzielle Maßstab, mit dem die Junghähne in Imst angelernt und unterrichtet wurden, lassen vermuten, daß die hierbei praktizierten Techniken wie das Einbauern, die Verdunkelung und das Abhören in Ansätzen schon den Imster Bergleuten vertraut waren. Die kleinen Transportbauer verwendeten sie ohnehin schon und sie wußten, dass der Kanarienvogel ein Einzelsänger mit Revieransprüchen ist, denn es wäre viel einfacher gewesen, viele Vögel in einigen größeren Bauern mit auf die Verkaufsreisen zu nehmen. Es dürfte ihnen nicht entgangen sein, dass einzeln gehaltene Vögel ruhiger und besser singen als zu mehreren in einem Käfig untergebrachte. Schließlich sind die Andreasberger Züchter als Berg- und Hüttenleute aus Imst in den Harz gekommen, wohin sie nicht nur ihre Vögel, sondern auch die Kunst ihrer Gesangsausbildung
3 mitgebracht haben dürften. Demnach müssten sich die Grundlagen der Gesangsausbildung und veredelung vor über 200 Jahren entwickelt haben. Die Züchter von heute sind sich ihres Tuns, dieses alte Kulturerbe durch Pflege zu bewahren, durchaus bewusst.

Eine Blütezeit erreichte diese Kultur gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Harzer Bergstädtchen St. Andreasberg und einigen umliegenden Flecken. Hervorragende Züchter, darunter Trute in St. Andreasberg, Erntges in Elberfeld u.a. waren darauf bedacht, Vögel zu züchten, die ihr Lied fehlerfrei sangen, und merzten durch jahrzehntelange Auslese jeden kleinen Schnitzer aus. Sie kamen auf diese Weise zu glockenreinen Vögeln, die ihr Lied aber nur in der mittleren Gesangslage vortrugen, bis eines Tages der tiefe Vogel des Züchters Seifert von sich reden machte. Weitere Jahrzehnte fleißiger Züchterarbeit bis in unsere Tage hinein haben uns den fast fehlerfreien tiefen Hohl-, Knorr- und Pfeifenvogel beschert.

Das Einbauern

Der schöne Gesang

Das Zuchtziel für den Harzer Roller steht außer Frage sein, es ist der schöne Gesang. Trotz der Schwierigkeit, Töne in Worte zu fassen ist, möchte ich versuchen, die Vorstellungen der Züchter über ihr Zuchtziel zu konkretisieren. Die Frage “Wie soll der Gesang unserer Harzer Vögel sein?” ist einfach gestellt und kann auch zufriedenstellend beantwortet werden. Allerdings bekommt man auf diese Frage häufig von Züchter zu Züchter unterschiedliche Antworten. Das liegt daran, dass alle Meinungen zu unserer Kernfrage aus dem Gefühl heraus entstehen. Wie der Wert von Kunstwerken aus Menschenhand durch kein Gerät zu messen ist, so käme auch in kein ein Züchter, Liebhaber oder Preisrichter auf die Idee, die Schönheit des Kanariengesanges durch Messungen herauszufinden, seien es nun die Klangtiefe, die Tourenlänge oder Ähnliches. Und obwohl viele Elemente des Kanarienliedes technisch erfassbar sind, wird doch seine Schönheit immer nur von unseren Empfindungen her beurteilt werden und nie von irgendwelchen noch so klugen Messdaten.

Wie aber soll der Gesang unserer ausgebildeten Junghähne sein? E. Richard hat es in seinem klassischen Gesangskanarienbuch von ca. 1895 auf einen einfachen Nenner gebracht: “Der Gesang soll vor allem schön sein”. Die Schönheit des Gesangs setzte er vor die Reinheit, d.h. Fehlerfreiheit, die von einigen damaligen Preisrichterkollegen als wichtigste Eigenschaft angesehen wurde. Richard: “Hohle und tiefe Sachen, mögen sie heißen wie sie wollen, üben einen Reiz auf mich aus, selbst wenn ich dabei etwas mit in den Kauf nehmen muss”. Und “Was nützen uns Vögel, die da rein sind und keine melodischen Touren bringen?”. Allerdings würde er natürlich einem schönen und zugleich reinen Gesang von Vögeln, die außerdem noch vielseitig sind, den Vorzug geben. Ähnlich äußerte sich Anfang des Jahrhunderts auch Tretter mit der Ansicht, “dass für einen Feinzüchter zunächst die Tiefe und dann die Reinheit in Betracht kommt”.

Tretter beschreibt mehrfach seine Vorstellung vom idealen Kanarienlied: “Ein langgezogener, ruhiger Vortrag, bestehend aus reinen, abwechselnden, schmelzigen, klangvollen Touren mit glatten, wohlklingenden Übergängen, mit wenig Pfeifen und zarten Klingeln”. Er wünschte sich ein zusammenhängendes, abwechslungsvolles Lied mit tiefen Hohlrollen, markigen Knorren, und – heute
4 praktisch nicht mehr anzutreffen – quellenden Wasserrollen und tiefen Schockeln. Im Idealfall besäßen “die einzelnen Töne eine schmelzige Resonanz und eine dumpfe, runde, weichtönende Klangfärbung”. Die Gesangszüchter von heute wissen, dass sich seither an diesen Ideal-Vorstellungen praktisch nichts geändert hat und dass es auch keinen plausiblen Grund für mögliche Änderungen gibt. Was gut ist, soll getrost beibehalten werden.

Das herbstliche Einbauern

Harzer Kanarien können wundervoll singen, doch um diese Fähigkeit zur Blüte zu entwickeln, sind eine Ausbildung und regelmäßiges Training erforderlich. Wer mit seinen Vögeln an Gesangswettbewerben teilnehmen möchte, muss mit ihnen üben, ihr Lied entspannt und möglichst vollendet vorzutragen, wenn sie in ihren Käfigen in einer fremden Umgebung vor dem Preisrichter aufgestellt werden. Gesunde Jungvögel zu züchten, ist nur eine der Voraussetzungen, um bei den herbstlichen Wettbewerben erfolgreich zu sein. Ebenso wichtig ist nämlich die Kunst, junge Kanarienhähne zu guten Sängern auszubilden und ihren Gesang über die Zeit der Meisterschaften auf der Höhe zu halten. Wichtigste Hilfsmittel hierbei sind das herbstliche Einbauern und das regelmäßige Training.

Ihren Gesang lernen die Vögel auch in der großen Voliere, doch kann der Züchter hier kaum die besonders begabten Künstler herausfinden, die er für die Weiterzucht benötigt. Daher werden die Junghähne nach Abschluss der Herbstmauser in sog. Einsatzbauer gesetzt. Hier finden sie die nötige Ruhe für ihr weiteres Studium, ihre gesangliche Entwicklung kann gut verfolgt werden, und in diesen Käfigen erfolgt auch die Bewertung durch besonders ausgebildete Gesangspreisrichter.

Dass der Gesang vor allem schön sein soll, leuchtet ein. Doch was ist nun alles zu bedenken, um den einfühlsam beschriebenen, schönen Gesang zu erreichen? Hierbei muss man sich vor Augen halten, dass der Gesang als Teil des Balzverhaltens äußeres Zeichen des Geschlechtstriebes ist und der Werbung um die Henne dient. Will der Züchter nun lange etwas von seinen ausgebildeten Sängern haben und ihren ruhig vorgetragenen Gesang über Monate genießen, dann muss er versuchen, den Fortpflanzungstrieb, der sich zunehmend einstellt, wenn die Wintermonaten ihrem Ende zugehen, auf eine Weise zu verzögern, dass er sein Ziel erreicht, das Wohlbefinden des Vogels aber hierunter nicht leidet, denn sonst verlöre er die Lust zu singen.

Der einstmals schöne Gesang artet leicht aus, wenn er in den hitzigen, triebgesteuerten Balzgesang übergeht. Wir bekommen ihn zu hören, wenn der Hahn in der Hecke voller Temperament die Henne in einer Hetzjagd verfolgt. Jetzt verliert das Lied seine Schönheit, es wird laut, schrill und hektisch, kurzum so, wie der Züchter es nicht mag. Daher darf man die Junghähne während der Ausbildung nicht den dauernden Lockrufen der Weibchen aussetzen, sonst ist es mit einem schönen ruhigen Liedvortrag meist schnell und unwiderbringlich vorbei. Ein Vogel, der unruhig in seinem Einsatzbauer umherspringt und Locktöne von sich gibt, um ein Weibchen anzulocken, ist für einen Wettbewerb nicht mehr zu gebrauchen, da sein Gesang hart und triebig geworden ist. Pure Genießer unter den Züchtern pflegen deshalb einige Sänger in einem separaten Raum.

5 Wie die Gesangsausbildung der Junghähne zu gestalten ist, um das einem vorschwebende Ziel von Wohlklang, Vielfalt und Schmelz zu erreichen, darüber können nur allgemeine Regeln genannt werden, die jeder Züchter entsprechend den eigenen Erfahrungen und räumlichen Möglichkeiten unterschiedlich befolgt. Bisweilen werden mehrere Wegen vorgeschlagen, unter denen der Züchter die ihm geeignet erscheinende auswählt. Die drei wichtigsten Gesichtspunkte sind 1. die Temperatur des Raumes, 2. die Art und Dauer der Beleuchtung und 3. die Menge und Zusammensetzung des Futters. Und schließlich spielt auch die Eigenart des jeweiligen Stammes eine Rolle.

Die Zeit zum Einbauern

Nach der Brutsaison und der spätsommerlichen Mauser erlebt der Züchter im Herbst die spannende-schöne Zeit, wenn er zu hören bekommt, was gesanglich in dem neuen Jahrgang steckt, dem er so viele Monate an Zeit und Hingabe gewidmet hat. In früheren Jahren war die Einbauerzeit um den 15. Oktober, und wer es irgendwie einrichten kann, bleibe in etwa bei diesem Zeitpunkt. Auch die noch Anfang Juni geschlüpften Junghähne sind jetzt voll durchgemausert und konnten in der Voliere lange genug dem Gesang der weiter fortgeschrittenen Studenten lauschen, um so ihr eigenes Lied zu vervollkommnen. Wegen der zeitigen Termine für die Gesangsmeisterschaften wird heute teilweise früher eingebauert, in der Regel etwa Anfang Oktober, ungefähr 1½ Monate vor der ersten Ausstellung, die häufig gegen Mitte November stattfindet. Junghähne, die früh im Jahr geschlüpft sind, können schon Ende September eingebauert werden und Spätgeborene noch bis ca. Ende Oktober. Wer mit dem Einbauern bis etwa Mitte Oktober wartet, hat immer noch gut 4 Wochen zur Verfügung, um seine Vögel auf die Vereinsmeisterschaft vorzubereiten, eine Zeitspanne, die völlig ausreichend ist. Das frühe Einbauern bringt allerdings den Vorteil, dass die Hähne mit fehlerhaften Gesangstouren rechtzeitig erkannt und außer Hörweite des großen Chores gebracht werden können, bevor andere ihre Mißtouren übernehmen.

Der Ausbildungsraum und der Gesangsschrank

Ideal für die Gesangsausbildung ist ein separater Raum, in dem die jungen Hähne nicht durch die Lockrufe der Weibchen von ihrem Studium abgelenkt werden. Der Raum kann ruhig klein sein, und in den meisten Wohnungen findet sich auch irgendwo eine geeignete Nische. Ist die Zuchtstube als Ausbildungsraum vorgesehen, müssen vorübergehend die Weibchen ausquartiert werden, vielleicht auf den Boden oder in die Gartenlaube. Nicht selten finden die jungen Hähne zur Ausbildung ein Plätzchen in der Küche, wo der dauernde Kontakt mit der Familie sie so vertraut mit dem Menschen werden lässt, dass sie auch später vor dem Preisrichter nicht aus der Ruhe zu bringen sind. Der Ausbildungsraum sollte auf 16 bis 18 oC temperiert werden, ausreichend und zugfrei belüftet sein und eine Luftfeuchte von ca. 60 % aufweisen. Sie wird mit einem Hygrometer kontrolliert. Oft sind im Wohnbereich etwas höhere Temperaturen kaum vermeidbar, so dass eine gewisse Gefahr besteht, dass die Vögel zu schnell triebig werden, wodurch ihr Gesang an Ruhe und Reinheit verlieren würde. In solchen Fällen kann die Futtermischung ruhig etwas dünner hergerichtet, d.h. mit Rübsen gestreckt werden.

Zur Gesangsausbildung werden die Junghähne vorübergehend in kleine Einsatzbauer gesetzt und in den sog. Gesangsschrank gestellt. Es handelt sich hierbei um ein Regal, dessen Größe sich nach der Zahl der
6 auszubildenden Junghähne und dem verfügbaren Platz richtet, und das man sich mit etwas handwerklichem Geschick leicht selbst anfertigen kann. Auch die Zuchtboxen können als Gesangsschrank dienen, wenn schon bei der Anfertigung darauf geachtet wurde, dass die Vorsatzgitter und die Schubladen leicht herausgenommen werden können. Bretter aus verschiedenen Materialien, die auf Winkelträgern liegen, welche an Wandschienen eingehängt werden, leisten ebenfalls gute Dienste. Der handwerklichen Fantasie des Züchters sind hier keine Grenzen gesetzt, und viele blicken mit Stolz auf ihr Werk. Solch ein Gesangsschrank ist ein ausgesprochen praktisches kleines Möbelstück mit einer Reihe von Vorteilen: In ihm können die Käfige übersichtlich neben- und übereinander aufgestellt werden, so dass die Junghähne während ihres Studiums gut beobachtet und auf einfache Weise gefüttert und sauber gehalten werden können. Für den Züchter ist es leicht möglich, die Kollektionen zusammenzustellen und die Käfige nach der Prämiierung wieder einzuordnen. Nicht jeder Züchter ist vielleicht aus Platzgründen in der Lage, einen Gesangschrank oder ein Regal aufzustellen. Vielfach werden dann statt des Regals die Transportkästen verwendet. Übereinander gestapelt erlauben sie ebenfalls eine einfache Pflege der Vögel und eine übersichtliche Zusammenstellung der Kollektionen.

Um das Licht während des Studiums regulieren zu können, wird vor dem Gesangsschrank an einer Schiene ein auf- und zuziehbarer Vorhang aus lichtdurchlässigem grünen Stoff aufgehängt. Günstig ist es, den Gesangsschrank an einen dem einfallenden Tageslicht abgewandten Platz zu stellen, damit die Vögel nicht durch helles Licht beunruhigt und vom Studium abgelenkt werden.

Das Einsetzen der Junghähne in den Trainingsbauer

Nun werden die nach der letzten Prämierung gut gereinigten und staubfrei aufbewahrten Einsatzbauer in den Gesangsschrank gestellt. Vielfach wird empfohlen, die Bauer und die Transportkästen nach der Reinigung auch noch zu desinfizieren. Hiervor kann ich nur warnen. Jedes Desinfektionsmittel ist ein Gift, und es muss schon fast als sicher gelten, dass trotz ausgiebiger Lüftung Spuren hiervon am Käfig haften bleiben. Das bekommt auch unser kleiner Hahn zu spüren, der in diesem Käfig sein Lied lernen soll. Der Arme kann den giftigen Gasen nicht entweichen und uns den Grund für seinen lustlosen Gesang auch nicht mitteilen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Vögel schon unter solchen Ausdünstungen gelitten haben. Leider vernichtet warmes Wasser, das wir zum Reinigen verwenden, nicht alle Keime, die man sich unter Umständen von einer Schau in seine Vogelstube einschleppen kann. Doch ist bei dieser Frage zu bedenken, dass die nur mit Wasser gereinigten Einsatzbauer und Transportkästen jedes Jahr über Monate trocken und abgeschlossen gelagert werden. Diese Zeit wird von Krankheitserregern und Parasiten kaum überlebt, denn sie finden keine Wirte.

Nun werden die Außenfütterungsnäpfchen eingehängt und befüllt, rechts das für Körnerfutter und links das für Wasser. Die Sitzstangen müssen am richtigen Platz (siehe DKB-Einsatzbauer) und passgerecht eingesetzt sein, damit die Gesangsbewertung nicht gestört wird, wenn beim Hin- und Herhüpfen des Vogels die Sitzstangen klappern. Die Bodenschublade wird mit feinem Sand bestreut. Jetzt kann man noch etwas zerstoßene Eierschale einstreuen; später, zum Zeitpunkt der Prämiierung, verzichte man auf alles, was den Vogel vom Gesang ablenken könnte. Dann werden die Hähne aus dem Flug gefangen und nach einer Kontrolle der Gesundheit in die Bauer gesetzt. Zuvor wird noch die Ringnummer abgelesen und notiert. Das
7 Zettelchen mit der Ringnummer wird, damit wir später auch wissen, welcher Junghahn welchen Käfig bewohnt, unterhalb der Näpfe an die Stirnseite des Käfigs geklebt. Günstig ist es, die Junghähne abends einzubauern. Sie werden bald einschlafen, und beim Erwachen am nächsten Morgen wird ihnen ihr neues Zuhause nicht mehr ganz so fremd sein.

Einbauern darf man nur Hähne, die gesund sind, bereits fleißig studieren, und voll durchgemausert haben. Dies erkennt man am besten am Kopfgefieder, das zuletzt gemausert wird. Sind um die Augen oder über dem Schnabel noch einzelne Federkiele zu sehen, wartet man noch ein wenig mit dem Einsetzen. Kranke Tiere und Vögel, die sich offensichtlich unwohl fühlen, werden entsprechend behandelt und erst dann eingesetzt, wenn es ihnen wieder besser geht. Vögel, die aus der Voliere gefangen werden, sind den Freiflug gewöhnt und haben einen großen Bewegungsdrang. In den ersten Tagen nach dem Einbauern hüpfen sie noch ein wenig erregt von Stange zu Stange, doch legt sich die Unruhe bald. Um den Tieren die Umstellung zu erleichtern, setzen viele Züchter sie vor dem Einbauern für ca. 1 Woche zu mehreren in die Heckboxen. Hier können sie sich noch gut ausfliegen, gegebenenfalls zuende durchmausern und sich an engere Raumverhältnisse gewöhnen. Meistens vertragen sich die Vögel. Sollte es zu Streitigkeiten kommen, dann trenne man sie, um ihnen unnötigen Stress zu ersparen. Junghähnen, die eine Übergangszeit in den Heckboxen verbracht haben, macht das Einbauern weniger aus, sie verhalten sich nach dem Einsetzen deutlich ruhiger. Andere Züchter halten den zwischenzeitlichen Aufenthalt der Junghähne in den Heckboxen für unnötig und haben hierbei ebenfalls gute Erfahrungen gemacht. Der Harzer Sänger ist ein so ruhiger und ausgeglichener Vogel, dass er sich auch im Einsatzbauer nach kurzer Zeit wohlfühlt. Woher man dies wissen kann? Nun, fast immer beginnt er alsbald wieder zu singen.

Man stellt die Einsatzbauer nebeneinander ins Gesangsregal und streut den Tieren zur Beruhigung noch etwas Mohn ins Futter. Zusätzliche Aufregung muss vermieden werden. Man spricht jetzt ruhig zu den Vögeln, stellt das Radio an oder pfeift ihnen das gewohnte Liedchen vor. Sinnvoll ist es, Tiere derselben Gesangsrichtung, d.h. Junghähne, die möglichst gleichartig singen, im Regal zusammenzugruppieren. So entsteht leicht ein Chor mit einem Gesangs-Miteinander, in dem die Vögel sich gegenseitig fördern. Üblicherweise werden die Junghähne nach dem Verwandtschaftsgrad im Gesangsregal zusammengestellt. Zuerst werden in der Mitte des Regals die Brüder eingesetzt, dann folgen weiter nach außen die Halbbrüder, und danach werden die weiteren Verwandtschaftsgrade dazugestellt. Mit dieser Anordnung wird die Absicht verfolgt, daß die durchgezüchteten Gesangseigenschaften dominieren, auf die entfernteren Verwandten einwirken und sich so die Gesangsqualität des Stammes festigt und fortentwickelt. Vermeiden sollte man, anfänglich Vögel unterschiedlicher Veranlagung zusammenzustellen, es könnte ein gesangliches Gegeneinander entstehen, bei dem sich die Vögel bei dem Versuch, ihre eigene Strophe durchzusetzen, gegenseitig hemmen könnten.

Zu einer Zeit vor weit über 100 Jahren, als diese Regeln entstanden, sangen die Stämme noch recht unterschiedlich. Es gab Roller-, Glucker-, Kollerstämme und andere mehr, deren Besitzer Wert darauf legten, die Gesangseigenschaft ihres Stammes zu erhalten und zu festigen. Demgegenüber sind die Stämme heute einheitlicher geworden, wobei sich der Viertourenstamm mit der dominierenden Hohlrolle durchgesetzt hat. Und so haben sich auch die Regeln für die Platzierung der Junghähne im Regal gelockert. Wer heute die alten Vorschriften befolgt, macht sicher nichts falsch. Nach anderen Auffassungen, die sich
8 mehr nach dem körperlichen und gesanglichen Entwicklungsstand richten, werden anfangs die jungen Hähne aus der ersten Brut weiter oben ins Gesangsregal gestellt, die der zweiten Brut weiter unten. Auf diese Weise werden fortgeschrittene Sänger sich gegenseitig fördern. Wieder andere Züchter stellen die Einsatzbauer ganz bewusst wahllos ins Regal, ohne irgendeiner Richtlinie zu folgen, und richten sich bei der späteren Anordnung der Hähne nur nach dem Gehör. Je nach den erreichten Gesangsfortschritten wird dann umgruppiert, bis die endgültige Zusammensetzung der Kollektionen gefunden ist.

Der Vorsänger

Der Vorsänger ist Führer und Meister der Jungen

In allen alten Zuchtanleitungen wird von ihm berichtet, im 19. bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts war er wichtigste Ausbildungshilfe bei der Gesangsschulung der jungen Hähne, ohne ihn ging es nicht. Gemeint ist der Vorsänger, auch Schulmeister genannt, der seltsamerweise heute in den Zuchtstuben nicht mehr angetroffen wird. Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Obwohl die Züchter seit einigen Jahrzehnten keine Vorsänger mehr einsetzen, scheint es mir doch interessant, einmal nachzuforschen, welche Aufgaben er hatte, welche Qualitäten er nach Möglichkeit haben sollte, wie er eingesetzt wurde, und weshalb man schließlich dazu überging, auf ihn zu verzichten.

Wie auch heute noch üblich, wurden seit jeher immer die Junghähne mit dem besten Gesang für die eigene Weiterzucht behalten und im kommenden Frühling in der Hecke eingesetzt. Doch einer oder zwei der allerbesten, und in größeren Zuchtbetrieben auch noch bedeutend mehr, kamen nicht in die Zucht. Sie waren als Vorsänger für die Jungen bestimmt.

Zur Ausbildung der jungen Hähne diente, wenn immer möglich, ein separater Raum, in dem nur Vögel mit demselben Lied sein durften, das hieß in der Regel alle Tiere der Nachzucht eines Stammes, wenn in ihm nur eine Liedrichtung vertreten war. Den Junghähnen im Gesangsraum wurden dann die drei oder vier besten Sänger der vorigen Saison zugestellt. Man achtete peinlich genau darauf, dass keine harten und unharmonischen Töne in Hörweite der Jungvögel erklangen. Die Schulmeister wurden nachts abgedeckt, damit sie nicht in eine vorzeitige Mauser fielen und ihren Gesang einstellten, wenn er am nötigsten gebraucht wurde. Bekanntlich mausern die Althähne später als die jungen, so dass ihr Gesang noch zum Anlernen der Kleinen dienen kann. Um die Zeit, wenn die Jungen ihre Mauser beendet hatten, hörte man, dass alle das gleiche oder ein ähnliches Lied wie ihre Schulmeister sangen.

Die Ausbildungskäfige wurden so nebeneinander aufgestellt, dass die Hähne einander nicht sehen konnten, da hierdurch ihre Aufmerksamkeit abgelenkt worden wäre. Ein junger Hahn sollte nur auf den Vorsänger hören, denn man hatte genügend Erfahrung damit, dass schlechte Noten, die er an nur einem Tag aufschnappte, den feinsten Gesang verderben können. Um ihren Gesang zu erhalten, durften die Vorsänger nur einige Stunden am Tag singen, während der übrigen Zeit wurden sie abgedeckt.

Nach dem Einbauern wurden die Junghähne allmählich an das Dämmerlicht gewöhnt. Dann wurden sie
9 mehrmals täglich für kurze Zeit abgedeckt, in der der Vorsänger sang.

Sehr begehrt waren reine Vögel, so dass ein großes Geheimnis darin lag, zu verhindern, dass der Vogel Abfall aufschnappt. Wer unter den kleinen Sängern schlechte Touren annahm, wurde recht bald ausgesondert, bevor er die anderen verderben konnte.

Kanarien kann leicht das Lied irgendeines Wildvogels, z.B. der Nachtigall beigebracht werden, indem man den Vogel mit dem erwünschten Gesang als alleinigen Vorsänger einsetzt.

Es steht außer Zweifel, dass sie zur Ausbildung neben den Kanarienvorsängern auch mit der Flöte oder dem Flageolet vorgespielte Notenstücke einsetzen.

Die Rolle, die der Vorsänger bei den alten Züchtern spielte, beruhte auf der Anwendung ihrer intuitiven Kenntnis darüber, dass das Kanarienlied ererbte und erlernte Teile enthält. Ererbte Teile, weil aus der Verpaarung von guten Sängern und den Schwestern guter Sänger oft die beste Nachzucht fiel, und erlernte Bestandteile, weil der monatelange Lernvorgang und besonders die gefürchtete Annahme von Misstönen direkt beobachtet werden konnte. Waren die erblichen Liedteile nur durch gezielte Verpaarungen zu verbessern, so sollten die erlernten durch eine gute und umfassende Ausbildung und fleißiges Üben unter Anleitung eines guten Gesangslehrers, des Vorsängers, zu beeinflussen sein.

Wenn die jungen Hähne nach beendeter Ausbildung die Touren des Stammes vortrugen und ein durchgezüchteter Stamm des einen Züchters sich gesanglich deutlich von dem eines anderen unterschied, dann galten die verankerten Stammestouren als erblich. Man konnte mit Sicherheit erwarten, dass auch die Nachkommen diese Touren mit ihren besonderen Eigenschaften beherrschen würden. Durch ähnlich gestaltete Stimmbandmuskeln verwandter Vögel sollte eine bestimmte Gesangsrichtung eher erreichbar sein als bei Zuchtmaterial, das aus verschiedenen Stämmen zusammengesetzt ist. Diese Erkenntnisse gelten bis heute, denke man doch nur an die in einigen Stämmen unserer Nachbarländer noch gut verankerten verschiedenen Formen von Glucken, die von heutigen Harzer Rollervögeln in Deutschland nur noch in Ausnahmefällen zu hören sind. Auch die in einem Stamm vorhandene Tiefe ist mit Sicherheit erblich, denkt man nur an die riesigen Tonhöhenunterschiede zwischen Harzer Sängern und einer anderen Gesangskanarienrasse, den sehr hell singenden Timbrados. Nach langer züchterischer Selektion erblich geworden sind auch die langgezogenen, zusammenhängenden Strophen mit weichen Übergängen, die der Harzer Roller vollendet vorträgt, die aber dem Lied des Wild-Kanari fehlen. Uns gelten diese Zusammenhänge heute als so selbstverständlich, dass sie bei den Fachsimpeleien unter Züchtern meistens gar nicht mehr erwähnt werden. Im 19. Jahrhundert war das aber nicht so, denn die gerade erblühende Naturwissenschaft widmete sich bei der damaligen Herauszüchtung der Haustierrassen ganz intensiv dieser Thematik.

Stellen wir uns die Frage, welche Aufgaben ein Vorsänger nun tatsächlich erfüllte, dann hilft uns die Betrachtung von ererbten und erlernten Liedteilen nicht weiter, weil beide Teile so eng zusammenhängen sind, dass ein bestimmter Liedteil weder eindeutig als ererbt oder erlernt zu kennzeichnen ist. Der ganz junge Student, der noch nicht viel mehr als ein leises Geknurkse von sich gibt, verfügt schon über die
10 komplette gesangliche Erbinformation, doch sein Lied vollendet sich auf diesem Fundament erst nach monatelangem Studium. Das Sprichwort “Üben macht den Meister” gilt nicht nur für Menschen.

So wie Menschen ein Lied lernen, geschieht es bei den Kanarienvögeln auch: Sie hören den Klang, versuchen ihn nachzuahmen, hören sich dabei selbst, vergleichen ihre Laute mit dem Original und korrigieren sich beim Wiederholen, wobei sie sich dem Original Schritt für Schritt nähern.

Der Vorsänger sollte möglichst ein Idealvogel sein

Es leuchtet ein, dass die Klänge, nach denen die Jugend lernt, von größtmöglicher Schönheit sein müssen und möglichst auch vollendete Tiefe, Reinheit und Weichheit besitzen sollen. Und so sind sich die alten Autoren auch darin einig, dass der Vorsänger möglichst ein Idealvogel sei sollte, ein 1. Preisvogel nach damaliger Bewertung. Denn “er ist als Führer und Meister berufen, die in diesen schlummernden Kräfte zu wecken und die Gesangsanlagen auszubilden” (Tretter). Sein Lied sollte dem Ideal in Schönheit, Tiefe und Reinheit möglichst nahekommen, wobei sich die Begriffe Tiefe für die Tonhöhe und Reinheit für die Fehlerfreiheit selbst erklären. Durch Schönheit, von Richard als wichtigstes Merkmal des Kanarienliedes angesehen, kennzeichnet ein ruhig vorgetragenes Lied aus langgezogenen Strophen in schmelzig-weichen Klängen mit glatten und wohlklingenden Übergängen. Wenige klagend gehauchte u-Pfeifen und zarte Klingeln kennzeichnen das Lied des idealen Vorsängers, welches die Touren des Stammes in sich vereinigt. Leider werden aber solche Wundervögel ohne jeden Fehler höchst selten, bei strengem Maßstab wohl nie gezüchtet. Deshalb müssen auch andere Vögel mit möglichst wenig und höchstens kleinen Fehlern als Lehrmeister genommen werden. In allen Fällen dürfen diese aber keine spitzen, harten oder schrillen Klingeltouren oder Pfeifen bringen, keine scharfen Aufzüge oder flache, knarrige Knorren, keine näselnden, rätschenden, heiseren Rolltouren, keine groben Beitöne, kein Schmettern, Zitt oder Schapp. Oh je, was sind das aber für schlimme Sachen; ich glaube, wir haben die Liste der Misstöne oder Fehlertouren, die jeden Gesangszüchter in Trauer versetzen, wenn er so etwas zu Hause hört, bald vollzählig. Weil die Kleinen die Stammestouren bei ihm lernen sollen, steht außer Frage, dass der Vorsänger der eigenen Zucht entstammen muss. Er singt die namengebenden Charaktertouren seines Stammes wie Hohlrollen, Glucken, Schockeln, Wassertouren und manch andere vollendet schön, ebenso wie die sonst im Stamm vertretenen Klänge und Strophen. Seinen Gesang können die Jungen am leichtesten nachahmen, da sie weitgehend die Erbanlagen für seinen Stimmapparat besitzen. Fehlen ihnen jedoch die Anlagen für die Charaktertouren oder die Tonlage, die ein Fremdling als Vorsänger hören lassen würde, so können sie seinen Gesang nicht oder nur in Teilen nachahmen. Hähne aus einem tief veranlagten Stamm werden beispielsweise sehr helle Klingeln eines Fremdlings nicht singen können, da der Bauplan ihres Stimmorgans dies gar nicht erlaubt.

Richard betonte, dass die Jungen kurze Touren oder gestoßene Laute am ehesten nachahmen, weshalb es auch so schwierig ist, die sogenannten Beiwörter aus einem Stamm herauszubringen. Aufzug, Spitzpfeifen, Glucken, Stimmen usw. sind gleich zuerst ausgeprägt vorhanden. Deshalb darf man den jungen Vögeln anfangs noch keinen Vorsänger mit langen, sondern nur einen mit kurzen Touren vorsetzen, den “die endlosen Touren der sog. Hohlrollerapparate sind völlig unnütz”. Später, wenn die Jungen die Grundlagen des Gesanges erlernt haben, muss man ihnen einen Vogel mit langen, gebogenen Touren beihängen, denn auch die Länge will erlernt sein, und der erfasste Ton der Hohlrolle wird dann von den Jungen eher in
11 Biegungen, Auf- und Absteigen verarbeitet, als wenn ihnen gleich ein solcher Vogel vorgesetzt wird, denn sie können ihm in seinen Modulationen nicht folgen, weil ihre Fähigkeit, die Stimmbänder in schneller Folge zu spannen und zu entspannen, noch nicht hinreichend entwickelt ist. Genau dies beobachten wir alljährlich zur Mauserzeit, wenn die Kleinen noch langsam und holperig das Rollen probieren. Die Silben einer vollendeten, flotten Hohlrolle (z.B. ro-ro-ro…) folgen einander in schnellem Rhythmus.

Schlußbetrachtung

Der Vorsänger war ein möglichst vollendet singender Hahn aus der eigenen Zucht mit den gesanglichen Anlagen des Stammes. Indem er den Junghähnen sein Lied wieder und wieder in vollendeter Schönheit vortrug, unterstützte er sie, ihr individuelles Lied in höchstmöglicher Reinheit zu lernen und war zugleich eine wichtige Hilfe, um die Charaktertouren im Stamm zu festigen. Der Vorsänger wurde bis weit in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, vereinzelt bis in die siebziger Jahre hinein, zur Ausbildung der Junghähne eingesetzt.

Die Gesangsausbildung

Die Unterbringung der Junghähne in der Ausbildungszeit

Nachdem alle jungen Hähne gut im Gesangsregal untergebracht sind, können sie sich nun bei normalem Tageslicht ausgiebig ihrem Studium widmen. Für ausreichend Frischluft sorgt das tagsüber geöffnete Fenster. In den ersten Tagen müssen sich die Hähne erst an ihre neue Umgebung gewöhnen, doch schon am nächsten Tag nehmen sie zaghaft und leise, in den folgenden drei bis vier Tagen zunehmend intensiver ihre Ausbildung wieder auf, und bald studiert der Chor wie zuvor in der Voliere. Anfänglich stehen die Einsatzbauer im Gesangsschrank so nebeneinander, dass die Tierchen ihre Nachbarn sehen können und so rascher mit ihrem neuen, engeren Zuhause vertraut werden. Schon nach etwa einer Woche sind sie sichtlich ruhiger geworden und haben sich gesanglich so weit fortentwickelt, dass die Trennschieber, dünne Holz- oder Papptafeln, zwischen die einzelnen Bauer gestellt werden können. Die Schieber werden zuerst nur etwa zur Hälfte eingeschoben, damit die Tiere sich weiterhin sehen können. Ein paar Tage später werden sie dann so zwischen die Einsatzbauer gestellt, dass die Tiere einander nicht mehr sehen können. Am besten geschieht dies abends. Man achte darauf, dass die Schieber vorn so weit zwischen den Käfigen hervorragen, dass sich die Tiere auch beim Fressen oder Trinken nicht sehen können. Der Junghahn kann jetzt seinen Nachbarn nur noch hören. Wenn die Sicht auf den Nachbarn Schritt für Schritt verringert wird, beunruhigt es die Tiere auch nicht merklich, wenn sie ihn gar nicht mehr sehen. Die Vögel im Gesangsregal haben ohnehin schon längst Stimmkontakt miteinander aufgenommen und kennen ihre Nachbarn, auch wenn sie sie nicht sehen. Ohne Ablenkung werden sie sich ihrem Studium intensiv widmen. Hierzu noch ein kleiner Tip: Wenn man vor die Rückwand des Gesangsregals eine schmale Leiste legt, können die Einsatzbauer und die Schieber nicht mehr dicht an die Rückwand geschoben werden, sondern es bleibt ein Zwischenraum, über den ein Gesangsumlauf entsteht. Die Junghähne hören sich dadurch besser, und ihre Lernwilligkeit wird unterstützt.

12 Die erste Auswahl

Je nach der verfügbaren Zeit zieht es den Züchter nun mehrmals am Tag zum Gesangsregal, um seine Vögel zu beobachten und vor allem zu hören. Zu bestimmten Tageszeiten, am Morgen, um die Mittagszeit und am Spätnachmittag, sind die jungen Hähne besonders sangesfreudig. Zu diesen Zeiten ist es möglich, einen Eindruck von der Qualität des Stammes zu gewinnen. Die tiefe Veranlagung mit den Vokalen o und u und die vier Grundtouren Hohlrolle, Hohlklingel, Knorre und Pfeife sind schon deutlich herauszuhören. Die sehr guten Sänger, die der Züchter jetzt schon im Gesangsregal erkennt, werden in den oberen Bereich gestellt, die weniger guten darunter.

Am wichtigsten in diesen ersten Tagen nach dem Einbauern ist es jedoch, möglichst frühzeitig die Spreu vom Weizen zu trennen. Wenn die Junghähne in ihren Einsatzbauern nebeneinander ins Gesangsregal gestellt werden, sind sie noch in einer sensiblen Lernphase und schnappen schnell Misstöne von anderen Studenten auf, um sie in Lied einzubauen. Um Spitzenvögel zu erziehen, sollten die gut veranlagten Hähne während der Ausbildung möglichst wenig Fehlertouren zu hören bekommen. Deshalb müssen stark fehlerhafte Junghähne schnell erkannt, aus dem Gesangsregal genommen und in einem anderen Raum untergebracht werden. In jeder Zucht tauchen zum Herbst einige Clowns auf, die uns alles Mögliche vorpfeifen, nur leider nicht das, was wir gerne von ihnen hören würden. Vor allem Gluckpfeifen, scharfe Klingeltouren, Aufzüge, Schwirren, schlechte Glucken und leichte Pfeifen breiten sich in Windeseile im Stamm aus und sind dann praktisch nicht mehr auszumerzen.

Die Fütterung der eingebauerten Junghähne

Nach dem Einbauern behält man noch etwa 14 Tage das vorher im Flug gereichte, rübsenhaltige Mischfutter bei. Nach altem Züchterbrauch wird das Mischfutter nun langsam, je nach Gangart der Vögel, mit Rübsen gestreckt, so dass schließlich ein Verhältnis von etwa zwei Drittel Rübsen zu einem Drittel Mischfutter erreicht wird. Häufig werden Rübsen und Mischfutter ohne Rübsen getrennt aufbewahrt. Der Rübsen wird dann stets in ausreichender Menge angeboten, und dazu kommt zunächst täglich ein gestrichener Teelöffel Mischfutter ohne Rübsen. Wird den Vögeln während der ganzen Ausbildungszeit immer genügend hochwertiger Rübsen gereicht, so dass sie nie hungern müssen, so kann durch unterschiedliche Gaben von Mischfutter ohne Rübsen der Gesang der Vögel in gewissem Umfang beeinflusst werden. Dies gilt für den Stamm und besonders auch für Einzeltiere. Bei nachlassender Sangeslust wird die Menge an Mischfutter ohne Rübsen erhöht, bei zu großer Hektik vermindert. Dieses Mischfutter ohne Rübsen setzt sich wie folgt zusammen:

Mischfutter ohne Rübsen während der Gesangsausbildung 50 % Glanzsamen 35 % Negersamen 5 % Leinsamen 5 % geschälter Hafer
13 5 % gequetschter Hanf

Der gequetschte Hanf muss täglich zugesetzt werden, da er leicht ranzig wird. Viele Züchter verzichten auf Hanf oder reichen ihn nur zur Anregung für Vögel, die im Gesang nachlassen. Bei den Gesangszüchtern haben sich über lange Zeiträume höhere Anteile von Rübsen im Körnerfutter als sinnvoll und hilfreich für die Haltung und Zucht, insbesondere aber auch für die herbstliche Ausbildung erwiesen. Die Züchter nahmen an, dass der Vogel gut beschäftigt ist, wenn er, um satt zu werden, viele von den kleinen Rübsenkörnern enthülsen muss. Er würde sich wegen des leicht bitteren Beigeschmacks (den der Rübsen früher hatte) nicht überfressen und so länger einen ruhigen, rhythmisch gleichmäßigen Gesang beibehalten. Viele Züchter verfahren auch heute noch so, andere sind der Auffassung, dass der tief veranlagte Sänger ein gehaltvolleres Futter benötigt und reichen während der gesamten Ausbildungszeit das gewohnte, verhältnismäßig kräftige, rübsenhaltige Mischfutter. Für die Ausbildungszeit mische ich mein rübsenhaltiges Mischfutter aus Einzelsaaten wie folgt zusammen: 5 Becher Rübsen, 5 Glanz, 3 Negersamen, 1 Leinsamen, 1 geschälter Hafer. Täglich wird das verbrauchte Futter aufgefüllt oder erneuert, und der Wassernapf wird mit einem kleinen Pinsel gereinigt, gespült und wieder befüllt.

Etwa dreimal wöchentlich wird eine Löffelspitze bis zu höchstens einem halben Teelöffel Eifutter über das Körnerfutter gestreut. Auf ein 12 Minuten hartgekochtes, geriebenes Hühnerei kommen 11/2 bis 2 Eßlöffel Zwiebackmehl, 11/2 bis 2 Eßlöffel eines käuflichen Trockeneifutters und 1 Teelöffel Mohn. Das Eifutter wird meist noch mit geriebener Möhre oder süßem, geriebenem Apfel angereichert und gut vermengt. Etwas gekeimter Rübsen kann ebenfalls zugefügt werden. Durch die feuchten Beigaben wird das Eifutter ein wenig pappig, so dass es nicht so schnell zwischen den Körnern auf den Boden des Futternapfes fällt.

Regelmäßig wird etwas süßer Apfel gereicht, den die naschhaften Tierchen kaum einmal verschmähen werden. Man drückt ein Scheibchen zwischen die oberen Gitterstäbe oder legt einen 1-2 cm breit geschnittenen Würfel auf das Körnerfutter. Die Nützlichkeit eines guten Apfels ist kaum zu überschätzen. Konnte den Vögeln in den Sommermonaten ausreichend Grünes geboten werden, so muss in der jetzt beginnenden dunklen Jahreszeit der Vitaminversorgung wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Apfel enthält für den Vogel notwendige Vitamine und Mineralien in der richtigen Menge und zuträglichen Zusammensetzung, er regelt die Verdauung und fördert die Abgabe eines nicht zu harten Kotes. Etwa zwei- bis dreimal im Monat oder bei vermutetem Bedarf kann die Vitaminversorgung über das Trinkwasser vervollständigt werden. Hierfür wird eine Multivitamintablette aus dem Lebensmittelgeschäft in der für Menschen angegebenen Menge Wasser, meist ein Glas voll, aufgelöst. Bevor am folgenden Tag wieder normales Trinkwasser gereicht wird, werden die Wassernäpfchen gut ausgespült. Eifutter und Obststücke sind leicht verderblich und werden daher morgens gereicht, Körner und Wasser zum Abend hin.

Die Pflege der eingebauerten Junghähne

Der kleine Einsatzkäfig verschmutzt ziemlich schnell. Man sollte deshalb jeden dritten Tag den Sand auswechseln und die Sitzstangen säubern. Hierbei lässt man die Vögel in einen gereinigten Käfig umspringen oder setzt sie mit der Hand um, wenn man sich vielleicht das eine oder andere Tierchen noch
14 etwas genauer ansehen will. Auch hieran gewöhnen sich die Vögel leicht. Man wird hierbei eine Handkontrolle durchführen, indem man den Vogel in der Hand hält und das Bauchgefieder mit dem Mund etwas zur Seite bläst. Die Bauchdecke eines gesunden Vogels ist mit einer dünnen, gelblichen Fettschicht überzogen. Ist der Bauch aber rötlich gefärbt oder zeigt dunkle Flecken, dann ist etwas nicht in Ordnung. Meist hat man auch schon an nachlassender Sangeslust festgestellt, dass der Vogel sich nicht wohlfühlt. Das Tier wird auf jeden Fall einzeln in einen größeren Käfig gesetzt, ruhig und warm gestellt und weiter beobachtet. Regelmäßig werden das Verhalten und die Beschaffenheit des Kotes kontrolliert, um festzustellen, ob man eine Krankheit behandeln muss.

Den Hähnen jetzt etwa einmal wöchentlich eine Badegelegenheit zu bieten, macht zwar etwas Arbeit, kommt aber ihrem Wohlbefinden zugute. Günstig hierfür ist das Wochenende, wenn man sich zum Reinigen der Käfige sowieso in der Vogelstube aufhält und die Tiere beim Baden beobachten kann. Man kann die Hähne beispielsweise zu mehreren in eine Zuchtbox oder einen Flug umsetzen, wo sie sogleich mit dem Bad in dem angehängten Badehäuschen beginnen. Die Hähne sollten hierbei beobachtet werden, um Raufereien zu vermeiden, denn der Aufenthalt im Einsatzbauer fördert ihr Revierverhalten. Wenn ihr Gefieder abgetrocknet ist, werden sie wieder in die Gesangsbauer zurückgesetzt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Vögel in Badehäuschen baden zu lassen, die auf einer ausreichend hohen Unterlage direkt vor die geöffnete Tür des Einsatzbauers gestellt werden. Dies hat den Vorteil, dass man die Tiere nach dem Bad nicht aus der Zuchtbox herausfangen muss. Und schließlich kann man die Vögel in ihrem Gesangsbauer auch mit einer Blumenspritze vorsichtig besprühen. Sie empfinden dies als angenehm und beginnen sogleich mit der Gefiederpflege. Die meisten Züchter verfahren wohl auf diese Weise.

Das Licht wird vermindert

Wenn die stärker fehlerbehafteten Junghähne ausgesondert sind und das Studium nun, etwa zwei Wochen nach dem Einbauern, so weit fortgeschritten ist, dass ein richtiger Gesang aus langen, zusammenhängenden Touren zu hören ist, beginnt die Zeit, in der das Licht vermindert und die Fütterung auf den erreichten Ausbildungsstand abgestimmt wird. Wir hängen nun vormittags und nachmittags für ca. zwei Stunden einen lichtdurchlässigen Vorhang vor das Fenster und lassen so eine wohlige Dämmerstimmung entstehen. Hierdurch wird erreicht, dass die Vögel ihr Lied ruhig und gleichmäßig vortragen. Auch an trüben Herbsttagen muss das Zimmer immer genügend hell sein, damit die Vögel ungehindert Futter und Wasser aufnehmen können. Hierzu eignet sich eine ganztägig eingeschaltete schwache Zusatzlichtquelle.

Ein paar Tage später wird nicht mehr das Fenster verhängt, sondern der Vorhang vor dem Gesangsregal zugezogen. Auch jetzt herrscht bei den Tieren ausreichend Helligkeit, bei der sie fortwährend leicht verhalten studieren. Bei einer stärkeren Abdunkelung würde ihr Studium nachlassen oder aufhören. Etwa dreimal am Tag wird der Vorhang zu unterschiedlichen Tageszeiten geöffnet und das Licht eingeschaltet. Auf dieses Lichtsignal hin beginnen die Vögel meistens spontan und zügig mit ihrem Liedvortrag. Die verstärkte Beleuchtung empfinden sie, selbst wenn sie sich mehrmals täglich wiederholt, als Morgen, den sie mit ihrem Reviergesang beginnen. Hörbar kräftiger wird jetzt ihr Chorgesang, und sie gewöhnen sich an die unterschiedlichen Lichtverhältnisse. Diese Übung führt dazu, dass sie auch im Wettbewerb dem Preisrichter sicher und zügig ihr Lied vortragen, wenn die Helligkeit erhöht wird. Wird der Chor jetzt beim Singen sehr
15 laut oder überschlagen sich die Stimmen der Tierchen gar, dann wurden sie vorher zu hell gehalten. Wollen sie ihren Chorgesang nur zögerlich oder gar nicht aufnehmen, dann standen sie zu dunkel. Jeder Berufstätige fragt sich natürlich, wie es zu bewerkstelligen ist, dreimal täglich den Vorhang vor dem Gesangsregal auf- und wieder zuzuziehen und zwischenzeitlich die Vögel zu beobachten? Das ist tatsächlich nur von Züchtern im Rentenalter zu schaffen, doch die Alternative liegt auf der Hand. Man lässt den Vorhang vor dem Regal auf und schließt den Vorhang vor dem Fenster. Dann kann das Licht im Zimmer über eine Zeitschaltuhr mehrfach täglich an- und ausgeschaltet werden. Berufstätige verfahren häufig auf diese Weise, können aber leider ihre Hähne tagsüber nicht abhören, sondern müssen dies in die Abendstunden verlegen. Am Wochenende werden sie dann feststellen, wie prompt die Tiere auf die Phasen erhöhter Helligkeit reagieren. Wie in fast allen Fragen der Kanarienzucht haben die Züchter auch zur Lichtreduzierung als Hilfsmittel bei der Gesangsausbildung unterschiedliche Ansichten. Mancher schwört drauf und macht geradezu ein Lichtstudio aus seinem Ausbildungsraum, andere halten überhaupt nichts von einer Lichtveränderung und erzielen ebenfalls gute Prämiierungsergebnisse.

Gesangskanarienzüchter werden bisweilen durch eine aufschneiderische Presse bezichtigt, ihre Vögel in Einzelhaft bei Dunkelheit mit Wasser und Brot zu halten. Das ist üble Nachrede, denn wer in journalistischer Übertreibung das herbstliche Einbauern der Gesangskanarien mit solchen Worten bezeichnet, verkennt die biologische Sinnfälligkeit dieses Vorgangs. Der Kanarienvogel ist bekanntlich ein Einzelsänger, der den Einsatzkäfig recht bald als sein Revier belegt und durch seinen Gesang kennzeichnet. Die Züchter gehen auf die natürlichen Bedürfnisse der Vögel ein, sie beschäftigen sich viel mit ihren Tieren und pflegen sie gewissenhaft. Schließlich dauert die Gesangsausbildung der jungen Kanarien nicht länger als einen bis zwei Monate und findet nur einmal im Leben des Vogels statt. Dass ein hingebungsvoll und fleißig singender Kanarienvogel sich offensichtlich auch wohlfühlt, daran können wohl nur noch ein paar Naturfremdlinge herumdeuteln.

Das Gesangstraining

Trainieren und Abhören

Beim Training wird mit den Vögeln alles geübt, was für die Gesangsmeisterschaft wichtig ist, der Aufenthalt im Einsatzbauer, die Gewöhnung an die unterschiedlichen Lichtverhältnisse, der Transport zum Wettbewerbsort, das Singen in ungewohnter Umgebung und vieles mehr. Weil hierbei so vieles schiefgehen kann, will jede Kleinigkeit immer wieder geübt werden, denn nur gut trainierte Vögel haben Aussicht auf Erfolg. Vielleicht ist das richtige Training die eigentliche Kunst bei der Beschäftigung mit Gesangskanarien. Mancher Züchter hat hervorragend veranlagte Junghähne, doch der Erfolg beim Wettbewerb geht an ihm vorbei, weil er vielleicht die eine oder andere Kleinigkeit nicht mit ihnen geübt hat. Die meisten Chancen dürften auf diese Weise verpasst werden. Und weil man so viel übersehen kann, will ich das Trainieren der Junghähne besonders ausführlich besprechen. Man könnte zwischen den Begriffen “Training” und “Abhören” unterscheiden. Zum Training gehört der Umgang mit den Tieren bei der Vorbereitung auf die Meisterschaft, während das Abhören ein Teil des Trainings ist, der nur auf den Gesang gerichtet ist. Meistens kann ich aber, wenn ich die Vögel auf den Tisch stelle und sie abhöre die Begriffe gar nicht
16 voneinander trennen und benutze sie daher gleichsinnig. Beide Tätigkeiten dienen dem Ziel, (a) die besten Sänger herauszufinden und sie in einer Kollektion zu vereinigen und (b) sie an die Ausstellungsbedingungen zu gewöhnen.

So ungefähr 10 bis 14 Tage nach dem Einbauern haben die Vögel sich auf das künstliche Licht eingestellt und singen ihr Lied schon zügig in ruhigen, langen Strophen. Einige Tiere mit Misstönen sind auch schon aussortiert worden, und im Regal hat der Züchter seine Junghähne auch schon einmal vorsortiert. Nun beginnt die Zeit, sie täglich ein- bis zweimal zu unterschiedlichen Uhrzeiten abzuhören. An den Tagen vor der Prämierung werden die Vögel möglichst bis zu dreimal am Tage trainiert.

Hierzu werden 4-5 Einsatzbauer auf einem Tisch übereinandergestellt. Die Längsseiten sind dem Hörer zugewandt, und die Futternäpfe aus seiner Sicht links. Gesangskanarien werden kollektionsweise bewertet. Zu einer Kollektion gehören 4 Hähne, die, in ihren Einsatzbauern übereinandergestellt, dem Preisrichter vorgeführt werden. Der oberste Vogel mit der Nr. 1 ist der Kopfvogel, gefolgt von den Hähnen Nr. 2 und 3 und der unterste ist der Tischvogel mit der Nr. 4. Der Züchter trainiert zur Sicherheit gerne noch einen Reservevogel mit, so dass beim Abhören oft 5 Hähne in ihren Bauern übereinanderstehen. In den Tagen nach dem Einbauern, wenn mancher Züchter eine größere Zahl von Jungvögeln abhören muss, kann er auch 2 Kollektionen durch eine Sichtblende voneinander getrennt nebeneinanderstellen. Hinter den Käfigen steht die sog. schwarze Wand, ein schwarz gestrichenes, dünnes Brett aus Sperrholz, das etwa so hoch wie 5 übereinandergestellte Käfige und etwa 5-10 cm breiter als ein Käfig lang ist. Schwarz ist diese Wand, damit die meist gelben oder gescheckten Kanarien sich gut von ihr abheben und so für den Preisrichter genau erkennbar sind. Außerdem dient sie als Resonanzfläche. Wie wichtig deren Wirkung ist, erkennt man, wenn man seine Tiere einmal vor einem größeren Publikum singen lassen möchte: Ohne die Wand verhallt der zarte Gesang sehr schnell, so dass die Besucher in den hinteren Reihen ihn nur noch schwach hören. Durch eine Lichtquelle wird der Raum gut ausgeleuchtet, so dass die Vögel gut sichtbar sind, aber keinen Schatten auf die Rückwand werfen. Es eignen sich Glühbirnen von ca. 70 W und Leuchtstoffröhren. Wenn möglich, sollte man zum Abhören eine Leuchtstoffröhre verwenden, da diese auch bei der Prämiierung eingesetzt wird. Damit auch der Hahn im obersten Käfig nicht dem vollen Licht ausgesetzt ist, wird sein Käfig mit einem der Trennschieber abgedeckt.

Wenn die Vögel auf dem Tisch stehen, nimmt der Züchter vor ihnen Platz und das Abhören beginnt. Einige Vögel singen schon beim Aufstellen der Käfige, andere fallen bald ein, wiederum andere wollen noch nicht so schnell mit dem Lied heraus, und einige singen vielleicht gar nicht. Zarte, vielleicht zurückgebliebene oder noch studierende Junghähne oder Vögel, die einige Tage nicht singen, entlasse man wieder in die Voliere oder setzte sie zur weiteren Beobachtung in einen Zuchtkäfig. Vielleicht brauchen sie noch ein paar Tage oder es entpuppt sich der eine oder andere Vogel als Henne. Kein Züchter erkennt die Hähne so sicher, dass er nicht ab und an auch ein Weibchen in den Gesangskäfig setzt. Gut trainierte Vögel sollten nach spätestens 10 Minuten ihren vollen Gesang aufnehmen, sonst werden sie wieder ins Regal zurückgestellt. Für den Preisrichter ist es wesentlich angenehmer und leichter, fleißig singende Vögel zu bewerten, und die Punkte für solche Sänger dürften in der Regel auch reichhaltiger ausfallen. Es reicht durchaus, wenn das Abhören etwa eine Viertelstunde dauert. Hähne, die anfangs noch etwas zurückhaltend sind, werden später noch einmal auf den Tisch gestellt und sind jetzt in vielen Fällen sangesfreudiger. Haben die Vögel ihr Lied
17 vollständig vorgetragen, werden sie wieder ins Gesangsregal zurückgestellt.

Nach ein paar Tagen haben alle jungen Hähne ihr Lied hören lassen, wobei der Züchter einen Eindruck von ihrer Gesangsqualität gewonnen hat. Beim Abhören macht er sich für jeden Vogel Notizen über den Wohlklang und die Vollzähligkeit der Touren. Vögel, die gleiche Strophen wie wenige, klagende Pfeifen, lange, gebogene Hohlrollen u.a. in besonderer Schönheit bringen, werden im Regal zusammengruppiert, damit sie sich gegenseitig halten und diese Touren festigen. Wird ein Vogel in seinem Bauer zu unruhig, so dass sein Gesang durch in Hektik auszuarten droht, dann wird er im Regal etwas weiter nach unten gestellt. Zugleich wird der Rübsenanteil erhöht und das Eifutter gestreckt oder reduziert. Hähne mit groben Fehlern werden an den Zoohandel abgegeben. Solche Fehler sind für den Liebhaber bedeutungslos, und oft findet er gerade diese hellen, lauten Töne schön. Ihm ist vor allem wichtig, dass das Tier gesund ist und fleißig singt. Auf diese Weise wird die Zahl der eingebauerten Vögel bald kleiner, so dass sich der Züchter den verbleibenden prämiierungswürdigen Hähnen umso intensiver widmen kann.

Tägliches Training ist nicht unbedingt erforderlich. Mancher Züchter kann seine Vögel aus Zeitgründen nur jeden zweiten Tag oder zeitweise noch seltener trainieren. Meistens sind es berufliche Gründe, weshalb einige Züchter wochentags nur abends ihre Vögel abhören können. Nachteilig ist dies nicht, denn ein Gesangshahn, der abends sein Lied singt, wird dies auch mit guter Sicherheit am Tage vor dem Preisrichter tun. Man muss das Training ja nicht zu sehr in die Nacht hinein ausdehnen, denn es könnte zur Folge haben, dass die Tiere dann nicht mehr genügend Nachtruhe bekommen. Für die Vögel ist ja der Winter durch kürzere Tage gekennzeichnet, die zum Frühling hin länger werden. So dient beispielsweise die künstliche Verlängerung der Tageszeit im Frühling der Vorbereitung auf die Hecke. Daher kann es vorkommen, dass Hähne, die regelmäßig spät abends abgehört werden, vorzeitig hecklustig werden, wodurch ihr Gesang stark leidet.

Beim Abhören muss man sich nicht besonders ruhig verhalten, sondern darf die Vögel ruhig ansprechen oder sich mit einem Besucher unterhalten, damit sie schon möglichst früh die Scheu vor dem Menschen in ihrer unmittelbaren Nähe verlieren und sich nicht durch Geräusche und Bewegungen des Zuhörers für längere Zeit vom Gesang abbringen lassen. Beim Gesangswettbewerb wird ihnen diese Vertrautheit zugute kommen. Auch durch ein Radio, das vor- und nachmittags etwa eine Stunde spielt, werden sie an eine gewisse Geräuschkulisse gewöhnt. Mir fällt ein schwerhöriger Zuchtfreund ein, der beim Abhören sein Ohr dicht an den Trainingskäfig halten musste. Seine Vögel schnitten immer gut ab. Um die Tiere an die Wettkampfbedingungen zu gewöhnen, empfiehlt es sich, sie auch an anderen Orten wie im Wohnzimmer, in der Küche oder bei einem benachbarten Zuchtfreund aufzustellen und abzuhören.

Futter

In dieser Zeit wird das Körnerfutter schon bis zu 50 % mit Rübsen gestreckt. Harzer Roller, die während der Trainingszeit heller stehen, können ruhig ein etwas leichteres Körnerfutter mit Rübsen und etwas Mischfutter bekommen. Werden die Vögel dunkler gehalten, muss schwereres Futter mit mehr Negersaat, Haferkernen, Lein und ab und zu ein paar Haferflocken gereicht werden. Dies gilt insbesondere für tief veranlagte Stämme. Je nach der gesanglichen Entwicklung eines Vogels wird wohldosiert mehrmals in der
18 Woche, bisweilen täglich, ein nicht zu gehaltvolles Eifutter gereicht. Auch das gewohnte Stückchen Obst wird beibehalten. Mit Hanf wäre ich wegen seiner treibenden Wirkung eher zurückhaltend und würde ihn nicht dem täglichen Futter beimischen. Vermutlich sieht der Futterplan bei den meisten Züchtern überwiegend Rübsen mit etwas Mischfutter ohne Rübsen vor, dazu Eifuttergaben und hin und wieder Obst oder andere Leckereien. Nach wie vor werden die Tiere regelmäßig mit Wasser eingesprüht oder es wird wöchentlich einmal die Möglichkeit zum Baden geboten.

Möglichkeiten, den Gesang zu beeinflussen

Vorschläge, ja geradezu Geheimrezepte, wie der Gesang oder eine Strophe positiv beeinflusst werden kann, gibt es genug, doch ist die Wirkung des einen oder anderen Mittelchens oft nur schwer nachzuweisen. Man muß halt nur dran glauben. Die folgenden, gutgemeinten Ratschläge kann ja jeder nach Bedarf einmal ausprobieren. Bisweilen wird zusätzlich Negersaat gereicht, um den Gesang weicher werden zu lassen. So bieten einige Züchter an Körnern eine Mischung aus 2/3 Rübsen und 1/3 Negersaat an. Da beide zu den fetthaltigen Sämereien gehören, habe ich hierbei meine Bedenken. Vögel, die störend hartes Wasser im Lied vortragen, wurden eventuell zu kalt gehalten. Man kann dies beheben, indem man die Temperatur erhöht, z.B. für 3 bis 4 Stunden vor dem Abhören auf 25 oC. Meist gibt sich Wasser später von allein. Um den Gesang weich zu halten, reiche man den Vögeln nie kaltes, sondern immer handwarmes Trinkwasser. Durch Honig wird der Gesang weicher. Man reicht ihn morgens für einige Stunden im Trinkwasser. Damit die Tiere morgens ausreichend hiervon trinken, nimmt man am vorhergehenden Abend die Trinkgefäße fort. Auch in geringen Mengen dem Eifutter beigemischt, verfehlt Honig seine Wirkung nicht.

Bisweilen fällt eine Tour im Lied eines oder mehrerer Vögel fort. Bringt der Vogel keine Hohlklingel oder Pfeife, so liegt dies u.U. daran, dass er nicht ausreichend gefüttert wurde. Man kontrolliere deshalb, ob Bauch und Brust von einer leichten gelblichen Fettschicht bedeckt sind. Hohlrolle und Knorre werden dagegen immer vorgetragen.

Der Gesangskasten verkleinert die Unarten.

Zusammenstellen der Kollektionen

Von Tag zu Tag wird die Gesangsentwicklung verfolgt. Die Vögel werden dem Züchter täglich vertrauter, und langsam lernt er sie am Aussehen und am Gesang auch einzeln kennen. Ihr Pfleger ist den Tieren ist schon längst bekannt, und so entsteht eine enge und befriedigende Partnerschaft zwischen Mensch und Tier. Vielleicht ist diese Nähe das schönste Erlebnis bei der Beschäftigung mit Gesangskanarien. Je nach der Gesangsentwicklung werden die Vögel im Regal umgruppiert, bis sich fast wie von selbst die Zusammenstellung der Kollektionen für die nächste Prämiierung ergibt. Doch so richtig zufrieden ist der Züchter eigentlich selten mit seinem Vögeln, immer wieder wird die Kollektion umgestellt, um dann mitunter erst wenige Tage vor dem Wettbewerb ihre endgültige Zusammensetzung zu finden.

Gedanken macht er sich auch über die Reihenfolge seiner Hähne in der Kollektion. Wer über vier gleich gute Hähne verfügt, braucht sich um die Reihenfolge nicht zu sorgen, bloß habe ich solch einen Fall noch
19 nicht kennengelernt. Oft nimmt man den fleißigsten Hahn als Kopfvogel, einen schwächeren Sänger als Nr. 2 oder 3, und den nervenstärksten als Tischvogel. Einen lauten Sänger setzt man eher nach unten, einen leiseren nach oben, damit sich sein Lied gut im Raum ausbreiten kann. Nach einer anderen Empfehlung wird der beste Knorrvogel als Tischvogel und der beste Hohl- und Pfeifenhahn als Kopfvogel eingesetzt. Wichtig ist aber vor allem, dass die Tiere in ihrem Lied zusammenpassen. In einer harmonierenden Kollektion lösen sich die Vögel bei den Touren einander ab, gemeinsam schwillt die Lautstärke an und ebbt ebenso wieder ab, eine Klangwoge nach der anderen gleitet wie eine Welle von unten nach oben und wieder zurück durch den Stamm, und obwohl die Vögel jeweils ihre eigene Tour singen, ergänzen sie sich zu einem in sich gerundeten Klangbild. Nun steigen von Tag zu Tag die Hoffnungen auf gute Prämiierungsergebnisse, und langsam, wenn er daheim die schönsten Lieder zu hören bekommt, erfasst den Züchter eine fieberhafte Unruhe.

Die Kunst, die Vögel gesanglich auf der Höhe zu halten

Bis zur Vereinsmeisterschaft ist die Sangeslust der Junghähne noch hervorragend, sie tragen locker, entspannt und variantenreich ihr Lied vor, weich und in wundervoller Tiefe. Vielleicht ist dies die Zeit des schönsten Kanariengesanges. Später im Jahr lassen die Tiere bisweilen nach. Dies ist zu beobachten, wenn man in Abständen von ca. 3 Wochen das Training der kleinen Sänger auf Video aufnimmt und später einmal vergleicht. Neben die Kunst, seine Hähne zu guten Sängern auszubilden, tritt nun eine zweite, die Vögel über die Zeit der Prämiierungen bis zur Deutschen oder Weltmeisterschaft gesanglich auf der Höhe zu halten.

Es kann durchaus vorkommen, dass die Tiere heute noch lustvoll singen und morgen ein Hahn verhaltener singt, andere sich in den folgenden Tagen anschließen, und schließlich mehrere Tiere weniger, dünner, heller singen, in den Touren abbrechen, herumspielen, im Wassernapf baden, sich putzen. Oh je, Gewitterwolken ziehen auf, am besten man meidet den Züchter jetzt, den Armen. Die Ursache für die nachlassende Sangeslust liegt selten auf der Hand. Alles wird überprüft, das Futter, das Licht, die Temperatur, und manchmal ist es nur ein kleiner Fehler. Zuchtfreund Bruno Kölpin aus Bremen wurde vor Jahren bei so einem Fall zu Rate gezogen. Er stellte bald fest, dass die Tiere vor einer kalten Steinmauer standen. Ein paar vor die Wand gehängte Decken, etwas Abstand und ein wenig mehr Wärme brachten schnell Besserung. Leider ist nicht immer solch ein erfahrener Helfer zur Stelle. Beobachtet man, dass mehrere Vögel gesangsverdrossen sind, dann können sie mitunter durch die Locktöne von ein bis zwei in Hörweite der eingebauerten Hähne gestellten Weibchen stimuliert werden.

Stellt man beim Abhören fest, dass ein äußerlich gesunder Vogel im Gesang zurückbleibt, dann schaut man ihn sich an, ob er vielleicht zu fett oder zu mager ist. Der Fette wird auf Diät gesetzt oder, besser noch, darf sich in der Voliere ausfliegen. Meist kehrt mit dem Normalgewicht auch der volle Gesang zurück. Der Magere muss, da es sich um einen kranken Vogel handeln kann, genauer beobachtet werden. Man setzt das das Tierchen in einem größeren Käfig an einen etwas wärmeren und helleren Platz, gibt ihm an den folgenden Tagen etwas gehaltvolleres Ei- und Mischfutter und verfolgt, ob und wie sich sein Gesang bessert. Bei Bedarf kann, um die Sangeslust zu fördern, eine Teelöffelspitze zerstoßener Hanf zum Körnerfutter gegeben werden. Die Tiere werden diesen Leckerbissen schnell fressen. Gemahlen in der
20 Kaffeemühle und dem Eifutter beigemischt wird der Hanf ebenso leidenschaftlich verzehrt. Ebenfalls kräftespendend sind eine Teelöffelspitze voll geriebene Walnuss oder Haselnuss oder 3-4 Sonnenblumenkerne. Auch gekeimter Rübsen, dessen Spitzen etwa 2 mm hervorschauen, ist ein probates Mittel, um einen kleinen Sänger zu verwöhnen. Oft dankt er einem die Liebesmüh und singt wieder so schön, wie wir es von ihm gewohnt waren. Man gebe aber dieses Futter nicht zu reichlich, da es den Trieb fördert.

Ein ausgezeichnetes Verfahren, die Hähne gesanglich auf hohem Niveau zu halten, wird von vielen Züchtern praktiziert, indem sie ihren Tieren zwischen den Gesangswettbewerben in einer Voliere oder in den Heckboxen bei nur leicht gedämpftem Tageslicht die Möglichkeit bieten, sich auszufliegen und täglich zu baden. Da Tageslichtverhältnisse in den Wintermonaten nicht lange genug herrschen, wird etwa zwischen 730 und 1100 Uhr sowie zwischen 1530 und 1830 Uhr zusätzlich eine Glühbirne zugeschaltet. Es reicht, die Hähne 7-10 Tage vor der nächsten Prämiierung wieder einzubauern. Wer seine Sänger regelmäßig zwischen den Prämierungen in die Voliere setzt, kann das Futter für die eingebauerten Hähne auf ein gehaltvolles Mischfutter und das gewohnte Stückchen Obst beschränken, denn im Flug werden zusätzlich Eifutter, Haferflocken, Mohn und ab und zu Vitamine gereicht. Fett werden die Hähne wegen der andauernden Streitigkeiten und Rivalenkämpfe hier nicht. Man sorge aber dafür, dass die Tiere genügend Einzelsitze vorfinden, um sich bei Bedarf ein ungestörtes Plätzchen zu sichern. Man vermeide, die ohnehin streitsüchtigen Hähne im Flug durch die Rufe in der Nähe befindlicher Weibchen noch weiter zu stimulieren.

Andere Züchter setzen die Hähne zwischenzeitlich bei nahezu normalem Tageslicht einzeln in die Heckboxen oder ohne Sichtkontakt in andere, mindesten 40 cm lange Käfige. Hier sind sie nicht den Aggressionen ausgesetzt, die in der Voliere auftreten, doch achte man darauf, dass sie in dieser Ruhe nicht so schnell fett werden. Es können auch etwa 6-8 Hähne für 3-4 Tage bei gedämpftem Licht und reichhaltigem Futterangebot und Badegelegenheit in eine 80 cm Zuchtbox gesetzt werden. Sie werden sich hier bisweilen heftig befehden, und müssen daher gut beobachtet werden, doch werden die Streitereien keine gefährlichen Ausmaße annehmen, da die Vögel sich wegen der verhältnismäßig großen Zahl immer mit neuen Rivalen streiten und ebenso leicht ausweichen können. Wer genügend Zeit hat, kann sie vor- und nachmittags mit lauwarmem Wasser einsprühen, damit sie sich der Gefiederpflege hingeben und so abgelenkt werden. Gesanglich schonen sie sich, wenn sie zu 6 oder 8 im Heckkäfig untergebracht sind, und beginnen sehr schnell zu singen, wenn sie wieder eingebauert sind. Werden die Vögel im Wechsel auf diese Weise im Einsatzbauer und im Heckkäfig gehalten, dann reicht für die eingebauerten Tiere ein gutes Körnermischfutter und etwas Obst. Versuchte man dieses Verfahren mit weniger, beispielsweise mit 2 oder 3 Junghähnen, dann würden sie immer wieder auf denselben Rivalen treffen und der Stress wäre schnell zu groß.

Wenn die Tiere zum Frühjahr hin in einen schnellen, lauten Gesang fallen, ist dies fast immer die Klingel als Ausdruck für die im Frühjahr langsam eintretende Balzstimmung. Die Tiere haben ihren Höhepunkt überschritten. Sie sind, wie der Züchter sagt, “über den Berg”.

Prof. Dr. Dietrich Siebers